Der Königin neue Kleider


Kleine Kinder fühlen sich zu Weihnachten ganz ähnlich, ich kann mich noch ganz gut daran erinnern, wie diese Anspannung vor Heiligabend an mir herumknabberte und gar nicht aufhören wollte, weil die Zeit bis zum 24ten einfach nicht verging. Von wegen kurze Tage, das Winterhalbjahr hatte die mit Abstand längsten Tage des Jahres. Genauso geht es uns jetzt. Am Donnerstag sagt uns Jan, dass schon alles fertig ist und die PINCOYA nur noch auf uns wartet. Aber wir müssen noch bei der Arbeit sitzen, obwohl uns die Neugier mit Macht aus dem Büro zerren will.
Bis 14:30 am Freitag bleiben wir standhaft und widerstehen der Versuchung, einfach ins Auto zu springen und hochzudonnern. Doch bevor wir uns dann endlich auf der Autobahn einfädeln, sacken wir noch schnell Lin ein, denn es sind ja Herbstferien und das Wetter verspricht Lin-typisch durchwachsen zu werden. Das passt gut ?! Aber das „Über-die-Autobahn-donnern“ und ein „Freitagnachmittag“ sind das Yin und Yang der deutschen Autokultur. Also kriechen wir in meditativem Schneckentempo in Richtung Norden. Und hätten wir nur ein Eimerchen Kinderstraßenkreide dabei gehabt, hätten wir die A7 und die A1 zwischen Allertal und Lübeck mit den Zen-buddhistischen Mustern einer absoluten Tiefenentspannung bemalen können.

Kurz vor acht sind wir dann in Großenbrode und parken direkt am Steg vor der Klemens Werft. Die neuen, knatterweißen Segel leuchten im Dunkeln zu uns herüber. So eine Kutterbesegelung sieht schon echt cool aus. Von allen Seiten betrachten wir die PINCOYA, sie sieht jetzt wie ein echter Weltenbummler aus. Viel können wir allerdings nicht sehen, es ist stockfinster und die Werft hat den Mast nicht wieder verkabelt, so fehlt uns die Deckbeleuchtung. Leider ist die PINCOYA auch, sagen wir mal, nur eher halbherzig festgemacht und abgefendert. Das entspricht nicht so ganz dem, wie wir mit dem Eigentum anderer Leute umgehen würden, zumal wenn wir uns dafür auch noch nicht eben knapp bezahlen lassen würden. Richtig ärgern wir uns allerdings, als wir sehen, dass das Antennenkabel an der Decksdurchführung einfach rausgerissen wurde, ohne die Steckerverbindung aufzuschrauben. Dort hätte man vielleicht doch ganz ohne Gewalt das Tape um die Kontermutter der Abdeckung entfernen können, um dann die Abdeckung hochzuschieben und die Kupplung aufzuschrauben. Aber nein, mit roher Gewalt geht es ja auch und wie es wieder zusammengeht, ist ja egal. Leider sind auch alle anderen Stecker offen und nicht abgedeckt. 15cm Klebeband hätten ausgereicht, damit nun kein Regenwasser in den Steckern steht, aber auf solche Gedanken kommt vielleicht nur der Eigner, der diese Stecker gekauft und eingebaut hat und der auch weiß, wie blöde eine Neuverkabelung ist. Wie schön wäre es gewesen, wenn man unsere Vorurteile werftseitig nicht so bestätigt hätte.

„Einfach rausgerissen! Schade.“

„Einfach rausgerissen! Schade.“

An nächsten Morgen hält uns, na ja, eigentlich speziell mich, nichts mehr in der Koje. In T-Shirt und FlipFlops schaue ich mir alles an, bis ich meine Füße vor Kälte nicht mehr merke und die Gänsehaut eine 80er Körnung erreicht hat. An Herbsttagen wie diesen sind Aufbackbrötchen zum Frühstück der real existierende Oberhammer. Unter Deck wird es dadurch knuffig warm und der heiße Tee bringt dann auch langsam wieder Leben in meine tiefgefrosteten Knochen.

„Erste Probe der Starkwindfock.“

„Erste Probe der Starkwindfock.“

Gleich nach dem Frühstück wollen Astrid und ich die neue Genua so anschlagen, dass die Reffleine steuerbordseitig läuft. Das hört sich zwar einfach an, ist es aber wohl offensichtlich gar nicht. Denn im tiefsten Inneren dieser Aufgabe schlummert eine ähnlich vertrackte Mystik wie in dem Wechsel von Winter- auf Sommerzeit und zurück ?. Genauso wie jedes Jahr auf’s Neue die Frage entbrennt, ob es nun im Frühjahr früher hell oder dunkel wird und ob man nun länger oder kürzer schlafen kann, diskutieren Astrid und ich die Frage?, wie wir die Rollreffleine dazu bewegen könnten, sich gegen den Uhrzeigersinn aufzuwickeln, während die Genua sich abwickelt?. Wir brauchen einige Zeit ?und einige ruhmlose Versuche??, um dieser Mystik endgültig den Garaus zu machen ?. Gott sei Dank ist es noch früh und keiner beobachtet uns dabei?.

„Auch die Genua und das Groß sehen gut aus. Mal sehen, wie das wird, wenn Wind drin ist.“

„Auch die Genua und das Groß sehen gut aus. Mal sehen, wie das wird, wenn Wind drin ist.“

„Nun sieht die PINCOYA wirklich nach großer Reise aus.“

„Nun sieht die PINCOYA wirklich nach großer Reise aus.“

Gegen Mittag sind wir dann weitgehend fertig, haben fast alles einmal ausprobiert, und auch Jan hat vorbeigeschaut und hatte auch wie durch Zufall die Rechnung dabei ?. Bevor wir losfahren, bringe ich noch schnell das Fahrrad nach HHafen, so können wir nachher auch Henry wieder abholen.

Großenbrode -> HHafen / Ortmühle Start: 14:15 Ende: 17:05 Wind: NE 18 – 24 kn Distanz: 15,3 sm Gesamtdistanz: 15,3 sm

„Aber erst einmal kommt die kleine Reise von Großenbrode  -> nach HHafen / Ortmühle“

„Aber erst einmal kommt die kleine Reise von Großenbrode -> nach HHafen / Ortmühle“

Hinter den Gebäuden der Klemens Werft liegen wir bei dem Nordost sehr geschützt und das Wetter macht sogar einen überaus freundlichen Eindruck. Als wir aber aus der Hafeneinfahrt raus sind und uns eine ganz ansehnlich Truppe von weißen Schaumkrönchen über die Mole angrinst, schlägt Astrid vor, dass wir vielleicht doch gleich mal mit dem ersten Reff im Groß beginnen könnten. Späte Einsicht ist in Großenbrode ja kein Problem, der Binnensee ist groß genug, dort können wir geschützt das Groß im ersten Reff setzen. Gott sei Dank haben wir das im Hafen schon einmal ausprobiert und die Reffleinen auf die richtige Länge gebunden, denn wir wollten ja schließlich sehen, wie das mit den Backstagen passt. So steht das Groß im ersten Reff für’s erste Mal schnell und es kann raus in die Ostsee gehen. Schon in der Einfahrt steht eine ordentliche Welle und es macht uns nichts aus, erst einmal die Starkwindfock auszuprobieren, später wollen wir dann auch noch mal die Genua setzen.

Kaum haben wir die Untiefentonne passiert, versucht auch schon eine Welle, auf das Dach des Decksalons zu kommen. Upps, die sind aber wirklich noch ganz schön groß. Wortlos beschließen wir, zunächst bei der Starkwindbeseglung zu bleiben. Der Wind pendelt sich um die 22 kn ein und ich schaue mir die neuen Segel in Aktion an. Plötzlich durchzuckt mich der Gedanke, dass da ja noch Backstagen sind und die nicht nur zur Zierde dort rumhängen. Flugs turne ich nach vorn, natürlich mit Schwimmweste, aber noch ohne Lifeline, fummele das luvseitige Backstag los und Astrid schaufelt mir fleißig Ostseewasser in meine guten Sneaker, die gar keine Segelschuhe sind und auch genausowenig nass werden möchten wie ich. Upps upps, da steht aber noch ein ordentlicher alter Schwell aus der vergangenen Sturmwoche und hat auch noch gleich einen kräftigen 6er Wind mitgebracht. Das leeseitige Backstag hole ich dann auch noch gleich, denn Ordnung soll ja sein. Die Leeseite hat aber gegenüber der Luvseite einen deutlichen Nachteil. Sie ist nasser, viel nasser. So spült Astrid meine gute Jeans, die weder eine Arbeitshose noch eine Segelhose ist, bis zu den Oberschenkeln mit Ostseewasser. Zurück im Cockpit denke ich gerade über trockene Schuhe und eine trockene Hose nach, als Astrid sagt: „Sch…, die Starkwindfock haben die nicht durchgesetzt!“ Stimmt, am Vorstag steht die Fock mit lustigen, vortriebslosen Falten. Bis vor unserem Umbau war so etwas kein Problem, das Fall des Vorsegels war bis in Cockpit geführt. Also anluven, durchsetzen und gut. Das ist nun aber nicht mehr so ?…?. Beide Fallen bleiben nun vorm am Mast, so dass wir die Durchführungen ins Cockpit für das 3te Reff frei haben. So baumelt das Fall der Starkwindfock nun verträumt am Mast herum. Es muss aufgedröselt werden und über 2 Rollen umgelenkt werden, um es nach achtern zu den Winschen ins Cockpit zu führen. Mist! Das dauert und ist fummelig. Ich suche mir 2 Rollen und gehorche freiwillig der Capitana und krame die Lifeline raus. Jeder 5te Welle erreicht inzwischen ohne Problem den Decksalon und erstaunlich viele schaffen es auch noch etwas weiter. Ich turne wieder nach vorn, binde mich an den Mast und verkeile mich, so gut es geht, zwischen Mast und Püttingen auf der Leeseite, denn natürlich kommt das Fall leeseitig aus dem Mast und nicht luvseitig. Es dauert ein gefühlte Ewigkeit, bis ich mit meinen a…kalten Fingern die Rollen angeschäkelt habe und das Fall durchziehen kann. Der praktische neue Snatchblock, den wir genau für diesen Fall gekauft haben, liegt in Henry hinter dem Fahrersitz ?. Dort wird er wenigstens nun nicht auch noch nass ?. Ab und zu höre ich Astrid, wie sie gegen den Wind „WÄÄÄÄLÄÄÄÄÄ!“ brüllt und wenige Sekunden später schiebt sich ein Stück Ostsee unter mein Sweatshirt, was gar kein wasserdichtes Segelsweatshirt ist und bereitwillig größere Mengen der Wellen in sich aufnimmt. Der Rest Ostsee fließt dann problemlos durch meinen Hosenbund an den Beinen ab.

„Unter Segeln…..“

„Unter Segeln…..“

Irgendwann bin ich wieder im Cockpit und die Starkwindfock ist durchgesetzt.
Ca. 400m querab kommt uns eine andere Yacht entgegen. Es ist wirklich selten, dass in der Lübecker Bucht der ganze Rumpf einer Yacht im Wellental verschwindet und nur noch der Mast herausschaut. Ich glaube, ich hab das in den vielen Jahren der Ostseesegelei erst einmal gesehen. Gut ist mir auch nicht mehr, die Fummelei auf dem Vorschiff hat mich geschafft und war alles andere als magenfreundlich. Nachdem ich mich trockengelegt habe, gehe ich ans Ruder, das hilft. Puuh, das war eine ordentliche Nummer. Jetzt stehen die Segel aber prima. Die Backstagen bringen nicht nur gefühlt eine gute Stabilität in das ganze Rigg. Wir selbst müssen uns noch etwas Einspielen mit dem neuen Rigg und den Segeln. Es hätte vielleicht nicht gleich ganz so doll losgehen können, aber so haben wir diese Windstärke schon mal abgehakt und sind sehr zufrieden. Schade, dass die Saison nun schon fast vorbei ist, wir haben Lust auf meer und das, was Jan uns genäht hat, verspricht viel Spaß bei diesem Meer.

in Heiligenhafen / Ortmühle in unserer Heimatbox
54° 22′ 20,4″ N, 11° 00′ 15,7″ E