Kuressaare


Als wir hier in Kuressaare ankommen, ist das Hafenmeisterbüro natürlich schon geschlossen, aber wir finden ein Schild mit der Nummer, wo wir anrufen sollen. Nachdem wir uns mit dem Hafenmeister für den nächsten Morgen um 8 Uhr verabredet haben, schaue ich auf mein Handy und sage: „Boah, dass hat sich aber am Ende doch noch ganz schön hingezogen, ist ja schon halbneun!“ „Nee, wieso?“ sagt Astrid, „Kurz nach halbsieben waren wir doch hier!“
Unsere Borduhr, eine vom alten Schlag, aber schon elektrisch ?, zeigt 19:30, aber unsere Handys 20:30 ?. Während ich noch murmele: „Sach ma, kannes sein…?“ Tippe ich schon das Wort „zeitzonen“ in Google ein und finde die ganze ernüchternde Wahrheit auf zeitzonen.de. Wir sind echt die größten Obertorfis der ganzen Ostsee, Estland liegt in einer anderen Zeitzone, zusammen mit Griechenland, nur eben nicht ganz so warm. Hier herrscht die EEST und nicht die MEST, also haben wir hier GMT+3 und nicht GMT+2.
Und damit erklärt sich auch Astrids überraschend übereifriger Einsatz bei Wachwechsel in der letzten Nacht. Mitten in meiner Wache springt mir nämlich plötzlich eine total muntere Astrid mit den Worten aus dem Niedergang entgegen: „Trarraahhh, da bin ich, du kannst dich schnell hinlegen, die Koje ist noch warm.“ Aber es ist erst kurz vor 4:00 und eigentlich hat Astrid noch wenigstens eine Stunde. Astrid guckt ihr Handy an, dann die Borduhr, dann wieder ihr Handy, murmelt: „Komisch…“ und verschwindet mit den Worten: „Na dann, prima, gute Nacht, äh Wache, tschüssi.“ Irgendwie hatte Astrids Handy als einziger an Bord schon den Zeitzonensprung gemacht, während alle anderen davon noch gar keine Ahnung hatten ?.

„Kuressaare Sadam, die Marina von Kuressaare.“

„Kuressaare Sadam, die Marina von Kuressaare.“

Als ich um 8:00 dann am Hafenmeisterbüro bin, was ja eigentlich 7:00 und damit für uns als trödelige Langschläfer noch schlimmer ist, als die 8:00 eigentlich schon schlimm genug gewesen wären, hat der Hafenmeister für uns schon eine ganze Willkommenmappe zusammengestellt. Wir plauschen ein Weilchen und er zeigt mir auf dem Stadtplan, wo das Zentrum ist, wo wir Brötchen kriegen und wo ein Konsum für den größeren Einkauf liegt. Und na klar, die Burg, da müssen wir hin. Die ist letztes Jahre fertig geworden, sah vorher schlimm aus, aber nun sind alle wieder sehr stolz auf ihr Wahrzeichen.

Als wir dann frühstücken, schaue ich beiläufig rüber zu dem Gebäude mit dem Yachtclub, dem Hafenmeister und dem Restaurant und dort weht nun plötzlich auch eine deutsche Fahne. Die war gestern noch nicht da, dort wehten gestern nur die estnische und die finnische Fahne neben den Clubflaggen und der Europa-Fahne. Wir sind echt etwas gerührt über so viel aufmerksame Gastfreundschaft.

„Am Hafen stehen einige neue Hotels…..“

„Am Hafen stehen einige neue Hotels…..“

„… die ganze Bucht mit Hafen umfasst eine parkähnliche Anlage.“

„… die ganze Bucht mit Hafen umfasst eine parkähnliche Anlage.“

Als erstes gehen wir rüber zur Arensburg. Der Yachthafen liegt ja nicht umsonst direkt unterhalb der Burg. Die gesamte Burganlage ist toll restauriert und man darf einfach so auf dem ganzen Gelände herumlaufen. Selbst auf den Burgwällen, nur am Eingangstor mahnt ein Schild, dass man das auf eigene Gefahr tut und runterfallen kann.

„Die Arensburg wurde vollständig restauriert….“

„Die Arensburg wurde vollständig restauriert….“

„…in der Burg gibt es eine Bildausstellung, die das ganze Ausmaß des Verfalls der früheren Jahre dokumentiert “

„…in der Burg gibt es eine Bildausstellung, die das ganze Ausmaß des Verfalls der früheren Jahre dokumentiert “

Die Stadt Kuressaare bekam erst 1988 offiziell ihren historischen Namen zurück. Bis dahin sprach jeder von der Stadt Arensburg auf Ösel. Diesen Namen hatte die Stadt von der Bischofsburg übernommen, die in ihrem Zentrum liegt und über deren Anlagen wir nun laufen. Da die Bischöfe aus dem Bistum Ösel-Wiek stammten, geriet der estnische Name Saaremaa ebenfalls gleich in Vergessenheit und alle Welt sprach nur noch von Ösel. Selbst auf unserer aktuellen Papierseekarte vom NV-Verlag steht unter dem Namen Saaremaa heute noch in Klammern Ösel.

„Im Innenhof.“

„Im Innenhof.“

Die Esten auf Saaremaa lebten seit Jahrhunderten unter wechselnden Fremdherrschaften. Zuerst waren es die Wikinger, dann ab dem 13ten Jahrhundert der Deutsche Kreuzfahrer Orden und die Bischöfe des Bistums Ösel-Wiek. Danach wechselten sich die Dänen, Schweden und Russen mit den Deutschen in einer nicht enden wollenden Reihe der Fremdherrscher ab. Erst mit Ende des ersten Weltkriegs begann wieder eine 20-jährige Zeit der estnischen Selbstbestimmung, die allerdings 1939 durch die russische Unterwerfung, die deutsche Besatzung und wiederum die russische Rückeroberung abrupt beendet wurde. Erst mit dem Zerfall der Sowjetunion bekam Estland seine Eigenständigkeit zurück.

„Der Kreuzgang der Arensburg und einige wenige religiöse und weltliche Werke, die erhalten blieben.“

„Der Kreuzgang der Arensburg und einige wenige religiöse und weltliche Werke, die erhalten blieben.“

Viele der ausgestellten Werke und historischen Gegenstände stammen nicht original aus der Arensburg. Die Gleichgültigkeit von Fremdherrschaften nimmt nie Rücksicht auf Überliefertes und Geschichtliches. So wurden in der historischen Ausstellung der Burg die Dinge von Saaremaa zusammengetragen, die oft nur durch private Engagement vor der gleichgültigen Zerstörung gerettet werden konnten.

Die Arensburg selbst wurde nicht nur vollständig renoviert, sondern beherbergt heute auch eine eindrucksvolle Ausstellung dieser Leidensgeschichte, die für die estnische Bevölkerung zwar auch einige Hochs mit sich brachte, aber zumeist bittere Unterdrückung bedeutete.

„Aus der Austellung“

„Aus der Austellung“

Besonders eindrucksvoll ist die mahnende Ausstellung der wechselnden Besatzungen ab 1939, dessen Unheil für alle Balten mit dem Hilter-Stalin-Pakt begann. Uns hat diese Ausstellung tief berührt, weil mit ihr der national-völkische Wahnsinn greifbar wird, der sich gerade heute in ganz Europa aus so viel Dummheit und Egozentrik und mit so viel verlogenem Populismus wiederbelebt.

„Ein Blick aus dem Turm der Burg. Unten links über den Bäumen der Mast der PINCOYA“

„Ein Blick aus dem Turm der Burg. Unten links über den Bäumen der Mast der PINCOYA“

„Auf dem Dach der Burg.“

„Auf dem Dach der Burg.“

Nach der Arensburg und der Ausstellung schlendern wir durch Kuressaare und genießen das Sommerwetter, die Freiheit, uns in fremden Ländern frei bewegen zu können, und das gute Gefühl von Gastfreundschaft und Toleranz zu spüren.

„Phantastische Holzhäuser, aber ….“

„Phantastische Holzhäuser, aber ….“

Im Großen und Ganzen wurden in Kuressaare schon viele der alten Herrenhäuser renoviert, aber mindestens ebenso viele warten noch darauf, dass sich ihnen einer noch annimmt. Besonders die einfacheren und weniger repräsentativen Häuser sind dabei nicht nicht so gut weggekommen. Vielleicht liegt das auch an den Preisvorstellungen. In einem Schaufenster eines Immobilienmaklers studieren wir die Preise der Objekte, können aber teilweise nur schwer eine sachliche Verbindung zwischen Preis und Objekt erkennen. Selbst für eine ungestüme Entwicklungsperspektive erscheint doch der eine oder andere Preis eher aus der Phantasiewelt entsprungen zu sein.

„… auch alte Schrabbelbuden stehen oft dicht nebeneinander.“

„… auch alte Schrabbelbuden stehen oft dicht nebeneinander.“

„Das Zentrum“

„Das Zentrum“

„Die Pause“

„Die Pause“

„Und noch einige Eindrücke mehr.“

„Und noch einige Eindrücke mehr.“

Gleich am Hafen begegnet uns die oben erwähnte Gastfreundschaft in Form des hier heimischen Suur Tõll und seiner Frau Pirit. Diese beiden Fabelwesen von Saaremaa verkörpern Hilfsbereitschaft und Gutmütigkeit. Und etwas Lebensfreude ist wohl auch dabei gewesen, denn der Suur Tõll soll neben Kohl und Bier auch die Saunagänge mit seiner Frau Pirit geliebt haben.

„Suur Tõll und sein Frau Pirit“

„Suur Tõll und sein Frau Pirit“

in Kuressaare (Saaremaa – Estland)
58° 14” 42,0′ N, 22° 28” 17,3′ E